Über mich

Ich – ein Prototyp – 10 Jahre Tiefenhirnstimulation

 

Ich – ein Prototyp – 10 Jahre Tiefenhirnstimulation

 

 

Hallo, mein Name ist Herr N. , ich bin heute 50 Jahre alt, habe seit 35 Jahren Zwangsneurose und Zwangsgedanken gemischt und lebe jetzt seit 10 Jahren mit einer Sonde im Gehirn gegen Zwänge.

 

 

Angefangen haben meine Zwänge so um das 14. Lebensjahr herum, damals als ausgeprägte Waschzwänge, später änderten sich diese immer wieder, mal Kontrollzwänge, Zwangsgedanken, aber eigentlich immer Wiederholungszwänge.

 

Der Verlauf war immer stark schwankend, irgendwann in den 90 ern suchte ich erstmals Therapeuten auf, was aber wenig erfolgversprechende Ergebnisse mit sich brachte.

 

Schließlich, ab etwa 1999 „ explodierten „ meine Zwänge regelrecht und nahmen immer mehr Bereiche meines Lebens ein: Ich konnte nicht mehr joggen, brauchte morgens 1 Stunde und mehr zum Anziehen, weil alles ohne „ falsche Gedanken „ erfolgen musste.

 

Es folgte der übliche Weg: Hausarzt, Antidepressiva , 10 verschiedene SSRIs, 6 Wochen Kur ( sehr ernüchternd ), unmittelbar anschließend ambulante Therapie 2 Jahre vor Ort ( die wirklich allen Regeln der Kunst folgte ) dennoch ging es stetig bergab.

 

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2002 sahen meine Zwänge wie folgt aus:  

 

18 - 20 Stunden am Tag Zwänge

 

maximal 5 Minuten Pause zwischen einzelnen Zwängen

 

konnte nur noch einen TV – Sender ertragen

 

irgendwann gab es auch fast nur noch „ verbotene „ Lebensmittel.

 

auf 200 Metern Strecke „ kniete „ ich bis zu 50 mal oder ging zurück.

 

Schlafen nur noch ohne Auskleiden möglich, da zu anstrengend.

 

Ankleiden morgens zur Arbeit mit bis zu 20 Wiederholungen pro Kleidungsstück – insgesamt 2 Stunden.

 

Autofahren im Schnitt für 15 km 2 Stunden und im Rekord 6 Stunden – als Konsequenz sollte ich die nächsten 5 – 6 Jahre gar nicht mehr Auto fahren können.

 

Es gab tatsächlich keinen Bereich mehr – etwa eine einfache CD zu brennen – der noch funktionierte.

 

Irgendwann kam dann auch noch der totale Systemumschlag hinzu:

 

Statt 2 Stunden zu Duschen , duschte ich 8 Wochen nicht mehr, ich rasierte mich nicht mehr und hatte einen 20 cm langen Vollbart und ich hatte schon vorher zu trinken begonnen, um überhaupt einmal 10 Minuten zur Ruhe zu kommen – bis zu einer halben Flasche Cognac am Tag.

 

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Ende des Jahres 2002 sah ich im Fernsehen einen Bericht über die erste Tiefenhirnstimulation ( THS ) in Europa und las kurze Zeit später , das die Universität Köln diese erstmalig für geeignete Patienten im Rahmen einer Studie anbot.

 

 

4 Monate später war es dann soweit: Ich rief in der Stereotaxie in Köln bei Professor Sturm an, bekam innerhalb 14 Tagen einen Termin für ein Vorgespräch.

 

 

 

 

 

Professor Sturm erklärte mir die eigentliche Operation, dass die Chancen bei etwa 60 – 70 % liegen würden und ich vorher eine Reihe von Testungen in der Psychiatrie durchlaufen müsste.

 

Eigentlich fiel die Entscheidung für dieses Verfahren schon am gleichen Tag:

 

 

 

Zum einen erschien es mir relativ alternativlos, zum anderen, war Prof. Sturm eine Persönlichkeit, die größtes Vertrauen, Fachkompetenz und vor allen Dingen Verständnis für die Krankheit aufbrachte, wobei ich wirklich keine Person bin, die sofort kritiklos übernimmt, was gesagt wird.

 

 

 

Alsdann folgte leider noch eine einjährige Wartezeit: Zum einen bis es einen Termin in der Psychiatrie zur Testung gab, zum anderen weil die Operation noch durch den Ethikrat abgesegnet werde musste.

 

Nach einer Testbatterie von 1 Woche im Sommer 2003 kam im folgenden Februar der Anruf:

 

Nach weiteren Testungen und entsprechender Eignung würde ich operiert werden.

 

 

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Die wesentlichen Voraussetzungen für eine Zulassung zur Operation:

 

 

 

 

 

 

 

- Der Patient muss austherapiert sein – alle anderen Möglichkeiten sind ausgeschöpft.

 

- Es muss mindestens ein, besser zwei stationäre Heilversuche gegeben haben.

 

- Es muss eine ambulante Therapie versucht worden sein.

 

- Es müssen ausreichend medikamentöse Versuche erfolgt sein – das bedeutet in etwa 2 - 3 verschiedene Medikamente über einen ausreichend langen Zeitraum ( Minimum 3 Monate ) und eine Kombination von zwei Medikamenten.

 

- Dier Erkrankung muss schwerwiegend genug sein, entsprechend einem YBOCS von etwa 30.

 

-  ( Damals ) keine suizidalen Gedanken

 

 

 

 

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Die Vorteile der Tiefenhirnstimulation – genaue Regulation

 

 

 

 

Sehr überzeugend war bei meiner Entscheidung auch die Tatsache, das es sich um einen reversiblen Eingriff mit diversen Einstellungsmöglichkeiten handelt - auch hinsichtlich eventueller Nebenwirkungen.

 

 

Nach der Grundeinstellung im Anschluss an die OP haben die Mediziner die Möglichkeit, die Wirkungsweise der Sonde von außen durch ein Programmiergerät zu verändern:

 

 

- So können etwa die vier Pole je Sonde unterschiedlich angesteuert werden und das Ergebnis optimiert werden.

 

- Die Stromstärke kann unterschiedlich stark eingestellt werden

 

- Man erhält als Patient ein Handgerät, mit dem man selbst – innerhalb festgelegter Grenzen - die Stromstärke nach Bedarf regulieren oder das Gerät sogar an – und ausschalten kann.

 

- Besonders dieser Punkt ist für mich wichtig, weil ich selbst entscheiden kann, was für mich momentan „ richtig „ ist. und auch das Gefühl, selbst die Wirkung beeinflussen zu können, gibt eine große Sicherheit.

 

- Keinerlei Gewebeschädigung durch die THS ( Autopsiebefunde )

 

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Der Operationstag

 

 

 

Es wurde eine Sonde über eine kleine Bohrung in das Tiefenhirn – in diesem Fall in der Nähe des Nucleus Accumbens - implantiert – entsprechend etwa einer Tiefe von 15 cm.

 

Die Sonde wird über eine Batterie mit kontinuierlichen Stromimpulsen versorgt, wobei die Batterie oberhalb des Brustmuskels liegt und mit einem Kabel unter der Haut mit der Sonde verbunden wird.

 

 

Die OP dauerte insgesamt knapp 8 Stunden, seinerzeit noch bei vollem Bewusstsein, heute auf Wunsch auch unter Narkose.

 

Tatsächlich hören sich die 8 Stunden weitaus schlimmer an, als es tatsächlich ist, denn der größte Teil geht für die Auswertung der bildgebenden Verfahren drauf, sowie die OP – Vorbereitung und den Anschluß der Batterie, dieser aber unter Vollnarkose.

 

 

In jedem Fall war ich 2 Stunden nach der Operation wieder auf den Beinen, ohne jegliche Schmerzen.

 

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Die OP und ihre Wirkung

 

Jeder mag sich wünschen, dass nun unmittelbar eine Wirkung eintritt.

 

 

Dies war jedoch nicht der Fall, konnte auch kaum der Fall sein, da aus Studiengründen in den ersten 6 Monaten, niemand wusste, wann das Gerät ein- oder ausgeschaltet war.

 

 

Bei mir kamen weitere psychische Belastungen hinzu: Von der Krankenkasse war ich unmittelbat vor der OP gezwungen worden, die Berentung zu beantragen ( die auch erfolgte ), was dazu führte, das sich der gesamte Lebensablauf von 60 Wochenstunden Berufstätigkeit auf Null reduzierte, was wiederum Raum für die Zwänge schaffte.

 

Auch in den folgenden 2 Jahren zeigte sich keine Besserung, während ich von Mitpatienten erfuhr, das sie 3 Monate nach der OP nach 15 Jahren erstmalig wieder in Urlaub fahren konnten.

 

Mein Therapeut stellte unmittelbar nach der Operation, gegen das Anraten der Klinik, seine Therapie ein da er, nach seinen Worten „ sich nicht von der Klinik instrumentalisieren lassen „ wollte.

 

 

Insofern besonders bemerkenswert, als das diese ihm gar keine Vorgaben gemacht hätte.

 

 

Natürlich hatte ich nach dieser Erfahrung erst Mal überhaupt kein Bestreben nach therapeutischer Behandlung.

 

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Die Revolution im Gehirn beginnt

 

 

 

Nach etwa 3 Jahren nahm ich einen ersten Anlauf wieder selbst etwas zu versuchen, und nach 5 Jahren des Nicht – Auto - Fahren – Könnens, absolvierte ich eine Strecke von 120 Kilometern im Alleingang.

 

Es war der erste, aber gewaltige Erfolg, auch wenn ich am folgenden Tag einen furchtbaren Muskelkater in den Händen hatte.

 

Von da an fiel das Autofahren wesentlich leichter, die ich nur so umschreiben kann, das gar kein „ Zwangsdruck „ mehr aufkam.

 

Das nächste was eintrat, war, das ich Speisen ohne Zwangsgedanken konnte, dann konnte ich auch wieder TV – Sendungen anschauen, die vorher sofort einen Zwangsreiz ausgelöst hätten.

 

Am längsten benötigte ich, die Wiederholungen auf offener Straße unter Kontrolle zu bekommen.

 

Das seltsamste an der Art der Besserung, war, das sich jeweils einzelne Bereiche in relativ kurzer Zeit vom Zwang befreiten, andere daneben voll weiter existierten, bis eine weitere Bastion fiel.

 

 

Häufig bekomme ich die Frage gestellt, ob sich meine „ Persönlichkeit „ verändert hätte und dies kann ich für mich voll und ganz verneinen.

 

 

Die Erfolgsquote liegt nach meinen Recherchen zwischen 60 % und 75 % auf eine Besserung – eine veritable Chance, wenn man bedenkt, dass es sich ausschließlich um Patienten handelt, bei denen nichts anderes Besserung gebracht hat.

 

Besserung wird im übrigens sowohl bei der THS als auch in der Therapie mit 35 % weniger Zwängen definiert.

 

Und wer 35 % nicht schon als Erfolg wertet, der ist noch nicht ausreichend zwangskrank gewesen, um das zu schätzen.

 

35 % weniger Zwänge bedeuteten für mich allein schon an der Zeit gemessen 6 Stunden ohne Zwänge und das allein ist schon ein Riesengewinn – nämlich eben von Null an gerechnet.

 

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Der technische und wissenschaftliche Stand der Dinge heute

 

 

 Geht man von der operationstechnischen Erfahrung aus, so sind bis heute rund 80.000 THS erfolgt (Quelle: Firma Medtronic ) vornehmlich auf dem Ursprungsgebiet der THS – der Parkinson – Erkrankung.

 

Nach eigenen Angaben der Universität Köln gehört diese mit rund 1.200 THS – Operationen zu den erfahrensten auf diesem Gebiet.

 

 

Im psychochirurgischen Bereich arbeiten zahlreiche Universitäten weltweit mit diesem Verfahren, jedoch in jeweils kleineren Fallzahlen - geschätzt dürfte es sich um rund 200 – 300 Fälle handeln, die in etwa auf die gleichen Ergebnisse kommen: 65 – 75 % Erfolgschance auf eine deutliche Besserung, alle bei bereits austherapierten Patienten.

 

Nach eigenen Angaben dürfte auch hier die Universität Köln die bisher meisten Erfahrungen gesammelt haben: Die Fallzahlen im Bereich Psychochirurgie dürften sich aktuell zwischen 70 und 100 bewegen.

 

Dabei sind auch jene eingerechnet, die sich mit anderen psychiatrischen Erkrankungen befassen:

 

Mittlerweile werden im Forschungsstadium auch Depressionen, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit im Forschungsstadium mit ersten Erfolgen behandelt – erste Studien über Alzheimerbehandlung sind geplant und in Toronto konnten Erfolge bei der Behandlung von Magersucht erzielt werden.

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Wichtig zu wissen

 

 

Tiefenhirnstimulation und die klassischen Therapien oder die medikamentöse Behandlung konkurrieren nicht: Erst wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind kommt die THS als Option in Frage.

 

Auch nach der Operation ist eine weiter therapeutische Begleitung und sogar zunächst eine Beibehaltung einer eventuellen Medikation wünschenswert, da die OP nicht einfach den „ Zwangsschalter „ umlegt.

 

 

Das ich heute die Entscheidung sehr positiv beurteile ist klar, dennoch macht es mir immer wieder zu schaffen, wenn ich höre, wie diese Möglichkeit den meisten schwerstkranken Patienten ausgeredet wird:

 

Die meisten „ Profis „ wissen gar nicht um das eigentliche Verfahren, und – lehnen es trotzdem ab und schlimmer noch:

 

Reden es den Patienten ohne Kenntnis der Ergebnisse oder auch trotz gegenteiliger Forschungsergebnisse aus.

 

 

Die tragische Komponente liegt für mich darin, das laut einer Studie jeder sechste Schwerst - Zwangskranke sich umbringt ( Nuttin 1999 ) und ich genau diese Erfahrung zwei Mal vor der OP gemacht habe und heute wohl nicht mehr da wäre, wäre keine Besserung erfolgt.

 

 

 

Ich bin der Ansicht, jeder in der gleichen Situation, sollte das Recht haben, neutral informiert zu werden und selbst die Entscheidung zu treffen.

 

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